Volkstanz
Die Tanzunterhaltungen in Brixen, die dort am Fronleichnamstag 1492 einer venezianischen Gesandtschaft auffielen, dürften Relikte eines einst die Flur umkreisenden Prozessionsschrittes mit kultischem Tanz darstellen. 1720 beklagte der Stadtrat zu Bozen, dass vor und nach dem Fronleichnamsspiel "junge Leuth beyderley Geschlechts mit Ballet[t] und Mahlzeiten [...] sich mit einander frö[h]lich mach[t]en". In Sterzing soll damals der übermütigste Tanz des ganzen Jahres zur Fronleichnam abgehalten worden sein.[51]
Auf Kirchtagen traf man sich weitum gern zum Tanz: Zu Albeins hatte bei diesem Anlass um 1500 der Richter von Gufidaun das Recht auf den ersten Tanz. Auf dem im September abgehaltenen Klosterkirchtag zu Innichen kamen im 17. Jahrhundert zu Markt und Tanz auch die Bewohner von Sexten.
In Tulfes und Rinn wurde das Tanzen an Kirchtagen 1547 eingestellt, im Vinschgau zum Beispiel im Jahre 1734 oder in Volders 1750 auf das Betreiben der Jesuitenmission hin.[52] Im Königlichen Damenstift zu Hall missfiel sehr, dass in der Gegend um Lienz"Bürger und Bauern [...] in Wirtshäusern [...] sich mit recht ärgerlichen und sündhaften Tanzarten belustig[t]en". In Ausübung seiner Gerichtsherrschaft erließ es daher 1778 ein Tanzverbot, über das die Herrschaftsverwaltung in Lienz zu wachen hatte.[53] Nachdem der Pflegsverwalter Georg Fuggers des Älteren sich angemaßt hatte, das "Saitenspiel" bei Hochzeiten, Kirchtagen und "Sommertänzen" zu erlauben, untersagte es Erzherzog Maximilian III. 1612 erneut.[54]
Die Fastnacht lockte die Leute in Stadt und Land auf den Tanzboden. Zur Zeit Herzog Sigmunds und Kaiser Maximilians erfreuten sich an den drei Fastnachtstagen selbst fürstliche Gäste am Tanz der Haller Frauen; die Musik besorgten Spielleute mit zwei Pfeifen, einer Trommel und auch einer Laute.[55] Der Landeshauptmann an der Etsch ermunterte im 16. Jahrhundert selbst in Bozen zum Bürgertanz. Dagegen untersagten Fürstbischof Karl II. Franz von Lodron, das Domkapitel und und der Hofrat von Brixen in einer Faschingsordnung für Brixen, Bruneck und Klausen 1793 generell öffentliche Vergnügungen und Hausbälle. Dabei konnten Wirtsleute eine Sondererlaubnis für Tanzveranstaltungen erwirken, die jedoch schon um 21 Uhr enden mussten. Ferner durfte nur zu "ehrbaren Tänzen" aufgespielt werden. Im Januar 1663 untersagte der Bischof von Trient Tanzveranstaltungen generell in einem Erlass, wobei jedem Ballbesucher, selbst jemandem, der einen Tanz auch nur duldete sowie nicht zuletzt jedem aufspielenden Musiker Strafe angedroht wurde. Auch Bischof Leopold Firmian von Trient versuchte um die Mitte des 18. Jahrhunderts vehement das beliebte Tanzen in seiner Diözese einzudämmen. In Bruneck fand um 1850 am Faschingsdienstag "beim Stern" der Kasinoball statt. 1752 erreichte die Jesuitenmission im Brixental, dass dort "den ganzen Fasching hindurch durch das ganze Gericht kein Spielmann gehört oder Tanz gepflogen" wurde.[56] Die Jesuiten hatten es zuwege gebracht, dass zum Beispiel in Telfes 1749 sogar das Tanzen bei Hochzeiten eingestellt wurde. Im Antholzer Tal sahen die Missionare 1742 ihre Sendung durch eine während ihrer Anwesenheit abgehaltene Hochzeitsfeier mit Tanz entheiligt. Bei Hochzeiten war das Tanzen im Volk so verwurzelt, dass Andreas Hofer 1809 bei der allgemeinen Notlage im Land überall und für jedermann das Tanzen untersagte, jedoch mit Ausnahme von Hochzeiten. Die Geistlichkeit sorgte auch im 19. Jahrhundert, etwa in der Gegend von Meran, in Gröden oder im Ötztal, für die Abschaffung des Tanzens als einer sündigen Ausgelassenheit.[57] Die Gemeinde Taufers im Münstertal entsagte 1630 wegen der sie heimsuchenden "Sterbs contagionsucht Gott dem allmächtigen vorderist, item unser lieben Frauen und allen Gottes Heiligen zu Ehren, damit man diser pösen Sucht erlöst werde", dem "offentlichen und haimblichen Tanzen".[58] Nach der Arbeit trafen sich zum Beispiel die Mähder und Mähderinnen auf der Seiser Alm um 1840 abends zu Sang und Tanz, nach der Aussage eines Beobachters "Hunderte".[59] Das Zillertal war eine überaus tanzfreudige Gegend.[60] Die Tanzmusik besorgten noch im 18. Jahrhundert oft Spielleute, zum Beispiel in St. Johann in Ahrn oder in Steinach am Brenner, wo zum Kirchtag Spielleute "von nahe und ferne" kamen, unter anderem aus Volders. Nach der Untersagung des Tanzens von kirchlicher Seite in Längenfeld beschwerte sich dort der Spielgraf von Innsbruck bei der Gemeinde, weil ihm nun die Abgaben der Spielleute entgingen. Die Wirte von Mühlbach im Pustertal veranstalteten Tanzunterhaltungen in ihren Gasthäusern und engagierten selbst dazu die Spielleute. Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts überbrachten die Tänzer im Oberinntal dem Ortsrichter für die Tanzerlaubnis und dazu dem Pfarrer Eier.[61] Nach einem Erlass im Jahre 1707 mussten die Kirchtagstänze in Steinach und Gries am Brenner von den Tennen der Höfe in die Wirtshäuser verlegt werden, damit der Spielgraf ein Recht auf seine Steuer behielt.[62] Zu mancher Schenke gehörte eine Tanzlaube, Tanzhäuser gab es in Städten und einigen alten Gerichtsorten. Lienz, Innsbruck oder Aschau im Lechtal etwa verfügten nachweislich im 15. Jahrhundert über ein Tanzhaus. Spieltennen dienten im 16. und 17. Jahrhundert unter anderem in der Innsbrucker Gegend als Tanzhaus, so in Amras, Schwaz, Axams, Kematen, Sellrain, Inzing, Telfs. Pfarrer Witting von Wenns im Pitztal kaufte 1735 das öffentliche Tanzhaus seiner Gemeinde und ließ es abreißen.[63] Aus Südtirol kennen wir nur vereinzelt Tanznachrichten aus dem "Spielhof" oder der "Spielhütte". Im 17. Jahrhundert waren in Kufstein der öffentliche Tanzplatz und der Gerichtsplatz identisch; Kitzbühel hatte einen "Tanz Poden auf dem Rathauß". Auch Schul- und Pfarrhäuser wurden als Tanzlokale nutzbar gemacht.[64] Die Jugend traf sich gern auf Almen zum Tanz.
Um 1800 bevorzugte man beim Tanzen "Landler" und "Teutsche", auch Ecossaisen, im 19. Jahrhundert den Schuhplattler. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte das nächtliche "Rayensingen" in Innsbruck so überhand genommen, "dass niemand mehr nit schlafen kunt".[65] Damals veranstaltete man alljährlich am Pfingstmontag in Münster im Unterinntal auf der Tegerwiese den "Handschuhtanz". Aus dem Jahre 1611 wissen wir vom Höttinger Schwerttanz.[66] Tanzende Teufel und Hexen bilden wiederholt den Inhalt von Tiroler Volkssagen.[67]
Fussnoten
[51] Josef Riedmann, "Eine Reise durch Tirol im Jahre 1492", in: das Fenster 23 (Winter 1978), S. 2343;
Zitiert nach Adalbert Sikora, "Fronleichnamsbräuche in Altbozen", in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, 3. Folge, 49. Heft (1905), S. 315;
Franz Hattler SJ, Missionsbilder aus Tirol. Geschichte der ständigen Jesuitenmission von 1719-1784, Innsbruck 1899, S. 213, 244.
[52] Anton Dörrer, "Das Recht auf den ersten Tanz dem hoheren [!] Gerichtsherrn", in: Der Schlern 26 (1952), S. 38;
Egon Kühebacher, "Zur Geschichte des Marktes Innichen", in: Der Schlern 43 (1969), S. 420;
Marianne Panzer, Tanz und Recht, Frankfurt am Main 1938, S. 20;
Franz Hattler SJ, Missionsbilder aus Tirol. Geschichte der ständigen Jesuitenmission von 1719-1784, Innsbruck 1899, S. 139.
[53] Zitat nach M[aria] K[ollreider]-H[ofbauer], "Tanzhäuser in Osttirol", in: Osttiroler Heimatblätter 22 (1954), Nr. 1, o.p.
[54] Zitat nach Georg Mutschlechner, "Unbefugtes Saitenspiel (1612)", in: Der Schlern 69 (1995), S. 428.
[55] Ludwig Steub, Herbsttage in Tirol, München 1889 (2. Auflage), S. 21;
Walter Senn, "Pfarrschule und Kirchenchor. Die Musikkapelle des Damenstiftes", in: Haller Buch (= Schlern-Schriften 106), Innsbruck 1953, S. 439.
[56] Anton Dörrer, Bozner Bürgerspiele. Alpendeutsche Prang- und Kranzfeste I (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 291), Leipzig 1941, S. 102;
Ursula Rieder, "Die Dommusik und einige Aspekte des bürgerlichen Musiklebens in Brixen", in: Musica vocalis. Singen in Südtirol einst und jetzt, hrsg. v. Südtiroler Sängerbund 1989, S. 31. -
Wortlaut des Erlasses vom 5.1.1663 bei Roberto Leoni, La Tradizione del Carnevale a Mori dal 1880 al 1990, Mori (TN) 1990, S. 16f. -
Clemente Lunelli, "I processi per balli suoni e mascherate in Vallagarina nei secoli XVII e XVIII", in: Atti dell'Accademia Roveretana degli Agiati. Contributi della Classe di Scienze umane di Lettere ed Arti a[nno] 240 (1990), S. 169ff.;
Pauline und Karl Meusburger, "Aus dem alten Bruneck. (Ungefähr 1830-1870)", in: Der Schlern 4 (1923), S. 4;
Franz Hattler SJ, Missionsbilder aus Tirol. Geschichte der ständigen Jesuitenmission von 1719-1784, Innsbruck 1899, S. 229.
[57] Franz Hattler SJ, Missionsbilder aus Tirol. Geschichte der ständigen Jesuitenmission von 1719-1784, Innsbruck 1899, S. 245, 169;
Hans Haid, "'Tanzn ist kindisch, tanzn tuat man nit'. Quellen zur Volksmusik im Oberinntal", in:
Festschrift Karl Horak, hrsg. v. Manfred Schneider, Innsbruck 1980, S. 233;
O. von Reinsberg-Düringsfeld, Culturhistorische Studien aus Meran, Leipzig 1874, S. 27f.;
A. A. Schmidl, Handbuch für Reisende nach Tirol, Salzburg und Erzherzogthum Oesterreich, Stuttgart 1840, S. 32;
Richard Wolfram, Die Volkstänze und verwandte Tänze in Europa, Salzburg 1951, S. 108.
[58] Zitiert nach Marianne Panzer, Tanz und Recht, Frankfurt am Main 1938, S. 17.
[59] A. A. Schmidl, Handbuch für Reisende nach Tirol, Salzburg und Erzherzogthum Oesterreich, Stuttgart 1840, S. 36.
[60] Philipp Mayer, "Musik und Volksmusik in Tirol und Vorarlberg", in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Band Tirol und Vorarlberg, Wien 1893, S. 370;
Karl Horak, Tiroler Volkstanzbuch, Innsbruck 1974, S. 3.
[61] Franz Hattler SJ, Missionsbilder aus Tirol. Geschichte der ständigen Jesuitenmission von 1719-1784, Innsbruck 1899, S. 81, 169, 243ff.
[62] Anton Dörrer, "Spieltennen und Tanzhäuser", in: Der Schlern 21 (1947), S. 299f.
[63] Anton Dörrer, "Spieltennen und Tanzhäuser", in: Der Schlern 21 (1947), S. 297ff., 341f.;
M[aria] K[ollreider]-H[ofbauer], "Tanzhäuser in Osttirol", in: Osttiroler Heimatblätter 22 (1954), Nr. 1, o.p.
[64] Anton Dörrer, "Die alten Tanzhäuser und Spieltennen in Tirol", in: Zeitschrift für Volkskunde 41, Neue Folge 3 (1931), S. 51;
Anton Dörrer, "Spieltennen und Tanzhäuser", in: Der Schlern 21 (1947), S. 297ff., 341;
Beda Weber, Tirol und die Reformation, Innsbruck 1841, S. 22.
[65] Karl Horak, "Volkslied und Volksmusik", in: Die tirolische Nation 1790-1820 [Katalog zur Landesausstellung im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum], Innsbruck 1984, S. 148;
Karl Horak, "Der Schuhplattler in Tirol", in: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes 10 (1961), S. 106f. -
Zitiert nach David von Schönherr, Gesammelte Schriften 2, Geschichte und Kulturgeschichte, Innsbruck 1902, S. 531.
[66] Hugo Neugebauer, "Der Münsterer Handschuhtanz", in: Tiroler Heimatblätter 15 (1937), S. 355ff.;
Richard Wolfram, Schwerttanz und Männerbund, Kassel 1936, S. 44.
[67] Manfred Schneider, "Der Teufel als Tänzer - zu einem Motiv der Volkssage", in: Festschrift für Karl Horak, hrsg. v. Manfred Schneider, Innsbruck 1980, S. 189ff.