Tiroler als Vater der Münchner Schule und Ratgeber von Richard Strauss
Der Bozener Ludwig Thuille war schon als Gymnasiast in München, um die Osterferien im Kreis der Musikerfamilie seines etwas jüngeren Freundes Richard Strauss zu verbringen. Strauss konnte die Ankunft seines liebsten, besten, schönsten, herrlichsten Ludwig kaum erwarten und versicherte ihm per Brief im Dezember 1878 nach Innsbruck: Wenn Du auf Ostern unser Wohnzimmer betrittst, so soll Dein 1. Blick auf die Partitur von Don Juan, Fidelio und Freischütz fallen und dahinter sollen als Reserve gute bairische Cigarren und Bier, das wir im Hause haben, fallen.
Ludwig Thuille hatte nach einer tristen Kindheit in Bozen - er war 1872 mit elf Jahren bereits Vollwaise - schließlich 1876 in Innsbruck bei Pauline Nagiller, der Witwe des Musikdirektors Matthäus Nagiller, eine liebevolle Heimstätte und die Bekanntschaft mit Familie Strauss gefunden. Frau Nagiller sorgte dafür, dass der talentierte Fünfzehnjährige in Innsbruck neben dem Gymnasium gediegenen Musikunterricht besuchte: bei Josef Pembaur dem Älteren in Klavier- und Orgelspiel sowie Musiktheorie. Josef Pembaur d.Ä., einst selbst Student an der Königlichen Musikschule in München bei Josef Rheinberger und Franz Wüllner, empfahl seinen Schützling an Rheinberger.
Der königliche Professor
Im Herbst 1879 übersiedelte Thuille von Innsbruck nach München, die Musikstadt, in der er Karriere machen und die er bis an sein Lebensende (1907) nicht mehr verlassen sollte. Das Studium an der Königlichen Musikschule bei Josef Rheinberger (Theorie, Komposition, Orgel) und dem Liszt-Schüler Karl Bärmann dem Jüngeren (Klavier) beendete er nach nur drei Jahren bravourös mit dem Vortrag eines von ihm selbst komponierten Klavierkonzertes. Obwohl er seinen Münchner Kompositionslehrer ursprünglich als pedantisch und Fugenseppl empfand, nahm er weiter bei ihm Privatstunden. 1883 erhielt er, mit 22 Jahren, die Berufung zum Lehrer für Klavier und Harmonielehre an die Musikschule in München, 1888 hier die höchst angesehene Stellung eines Königlichen Professors. 1903 trat er an dem inzwischen zur Akademie der Tonkunst erhobenen Institut die Nachfolge der Rheinbergerschen Professur für Komposition an.
Thuille durchlief die Wandlung vom Anti-Wagnerianer klassizistischer Prägung zum Verfechter der Liszt-Wagnerschen Richtung. Ab 1890 etwa scharte sich ein stilistisch homogener Kreis von Komponisten um ihn, genannt Münchner Schule. Thuille wollte für einen maßvoll neu gestalteten musikalischen Ausdruck weder Melodie noch Form aufgeben und trotz schillernder Harmonik nie die Tonalität verloren wissen; die Instrumentation blieb konservativ.
Thuille war über 20 Jahre lang die maßgebende Komponistenpersönlichkeit in München, vor allem als Pädagoge. Mehr noch als an der Akademie faszinierte er als Privatlehrer fähige Schüler aus nah und fern, insgesamt gut zweihundert. Ungewöhnlich scheint die Vielseitigkeit Thuilles, bildete er doch eine weitum berühmte nächste Künstlergeneration aus, wie zum Beispiel die Komponisten Walter Braunfels, Heinrich Kaspar Schmid, Julius Weismann oder Walter Courvoisier, die Dirigenten Hermann Abendroth, Hugo Reichenberger, Hans Schilling-Ziemssen, den Pianisten Josef Pembaur d.J., den Komponisten, Dirigenten und Dozenten Hermann Wolfgang von Waltershausen, aber auch Musikschriftsteller wie Edgar Istel.
Selbst Richard Strauss, der früh einen konträren Weg eingeschlagen hatte, scheute sich nicht, zu seiner Sinfonica domestica Thuille, vermutlich 1902, zu fragen: Lieber Freund! Du ist ein besserer Theoretiker als ich. Würdest Du mir den Gefallen tun und mir mitteilen, wie Du folgendes Fugenthema schulgerecht beantworten würdest? Thuilles Harmonielehre, verfasst mit dem Münchner Musikkritiker Rudolf Luis, ist bis heute ein Standardwerk.
Opernerfolg an der New Yorker Met
Thuille reüssierte mit Opern und Kammermusik in den deutschsprachigen Ländern ebenso wie an der Met in New York. Seine Heimat Tirol stand längst im Hintergrund. Zwar hatte er 1880, zwei Jahre vor Richard Strauss, Allerseelen des Tiroler Dichters Hermann von Gilm (op.4/4) und später von ihm noch Die Nacht (op.12/1) vertont, in Innsbruck 1883 Beethovens Klavierkonzert in Es-Dur unter Josef Pembaur d.Ä. gespielt und 1899 seine Romantische Ouvertüre op. 16 im Musikverein dirigiert, während der Sommerferien 1893 die Arbeit an der Oper Theuerdank in Mutters und Innsbruck bei seiner Schwester Marie aufgenommen oder um 1900 den Urlaub in Klobenstein verbracht, doch war ihm alsbald die königlich-bayrische Landeshauptstadt zum unabdingbaren Mittelpunkt seines Lebens geworden.
Hier wusste man auch seine Verdienste zu schätzen, wie nicht zuletzt ein Auftragswerk zur Grundsteinlegung des Deutschen Museums und die Auszeichnungen mit dem Prinzregent-Luitpold-Preis und der goldenen König-Ludwig-Medaille für Kunst und Wissenschaft bezeugen.