Nationalsänger

Wie bereits im 18. Jahrhundert waren auch zu Anfang des 19. Jahrhunderts viele Tiroler Wanderhändler im Ausland unterwegs. Während sie dort ihre Erzeugnisse feilboten, sangen manche von ihnen zuweilen Lieder aus der Heimat, die in der Fremde lebhaften Anklang fanden. Bald wußte vor allem der originelle und geschäftstüchtige Menschenschlag der Zillertaler aus dem nun allgemeinen, vornehmlich auch in höfischen Kreisen erwachten Interesse am Volkslied sich dies nutzbar zu machen. Die Französische Revolution und die Napoleonischen Feldzüge hatten das tirolische Nationalitätsbewusstsein bestärkt, so dass nun, in einer Zeit des romantisierenden Enthusiasmus für die Alpen, Volkslieder und Jodler Tirols zum begehrten, eigenständigen Exportartikel und in klingende Münze umgesetzt werden konnten. "Tirol" wurde weit umher zum Markenzeichen in Musik, Tanz, Dichtung und Mode. Stimmbegabte, von Natur aus sangeskundige Tiroler schlossen sich als "Natursänger" oder "Nationalsänger" in Gruppen zusammen und bereisten die Welt, wobei sie einem Publikum aller sozialen Schichten ursprünglich Volkslieder aus Tirol, später eigene oder fremde Kompositionen im Tiroler Stil darboten. Einige Mitglieder der Gruppen konnten die Gesänge instrumental begleiten oder eigene Instrumentalstücke, meist Tänze, vorspielen.[18] Genuine Volkslieder wichen klischeehaften Gebilden wie den "Tirolerliedern", die showmäßig vorgeführt, den landläufigen folkloristischen Tendenzen Vorschub leisteten. Der Mode, "à la Tyrolienne" zu komponieren, verschlossen sich nicht einmal berühmte Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Gioacchino Rossini oder Franz Liszt.[19]
Zar Alexander I. hörte im Jahre 1822 in Fügen die im Zillertal längst als hochmusikalisch bekannten Geschwister Maria, Franz, Felix, Josef und Anton Rainer singen. Begeistert lud er sie nach Petersburg ein. 1824 trat die später "Ur-Rainer" genannte Gruppe ihre erste Reise an, durch Bayern und Norddeutschland bis Schweden. An Fürsten- und Königshöfen, in Theatern und Konzertsälen fand ihr Liedvortrag Bewunderung. Als sie sich 1825 bereits nach Russland aufgemacht hatten, erfuhren sie in Wien vom Tod des Zaren Alexander I. Daher setzten sie nun ihre Tournee über Dresden nach Berlin fort. 1827 kamen sie nach London, wo ihnen der Hof seine besondere Gunst schenkte. Als Folge ihres Triumphs in England erschienen dort Tiroler Lieder im Druck. Ludwig Rainer (1821-1893), ein Sohn Maria Rainers, gründete eine eigene Sängergesellschaft und bereiste mit ihr von 1839 bis 1843 Amerika. 1855 gesellte sich zur Truppe seine Schwägerin Theresa Prantl (1839-1932). Von 1858 bis 1868 hielten sich die "Rainer" in Russland auf, nachdem sie schon durch England, Schottland, Irland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Italien und nach Paris gezogen waren.[20]
Die Strasser-Familie aus Laimach war auf Anraten Josef Rainers als Handschuhhändler 1831 zum Weihnachtsmarkt nach Leipzig gekommen. Dort sangen die Strasser-Kinder vor ihrem Verkaufsstand das seit etwa 1820 im Zillertal heimische "Stille Nacht heilige Nacht". Die Zuhörer waren so bewegt, dass die Geschwister ihre Weise auch noch in der königlich sächsischen Hofkapelle wiederholten und im Gewandhaus in Konzertpausen "Tiroler Nationallieder" zum Besten gaben. Mit Erfolg widmeten sich die Strasser nun ganz dem Gesang, bis die Truppe 1835 nach dem Tod von Amalie Strasser auseinander ging.[21]
Im Sommer 1826 begaben sich die Brüder Anton und Balthasar Leo mit ihrem Schwager Franz Gasser aus Zellbergeben am Ziller erstmals zum Singen auf die Reise nach Deutschland. Da man ihnen in Schwaz hierfür keine Pässe ausstellen wollte, besorgten sie sich Handelsdokumente. Nach anfänglichen Schwierigkeiten legte sich bald ihre Schüchternheit, so dass sie schnell bekannt und auch vor den Markgrafen von Baden zum Singen und Schautanzen geladen wurden. 1828 sangen sie in Weimar vor Goethe, dessen Gattin ihnen freundschaftlich zugetan war. Zwischen 1834 und 1840 kamen sie, zum Teil in erweiterter Besetzung, wieder nach Deutschland, dann unter anderem nach Holland, Belgien und Skandinavien. 1835 waren sie bei Herzog Max in Bayern, einem begeisterten Kenner und Mäzen des Älplerischen, zu Gast. In Dänemark erwirkte ihnen das Königshaus die Erlaubnis, im ganzen Land jederzeit ungehindert auftreten zu dürfen. 1836 besuchte der dänische Prinz die Sänger in ihrer Heimat in Zell. Ein auch vom Zaren viel beachteter Aufenthalt in Russland folgte 1842.[22]
Ludwig Rainer hatte seine ersten Erfolge als Nationalsänger in der von Simon Holaus (1814-1895) aus Schwendau im Zillertal 1838 gegründeten Truppe gefeiert. Ausgedehnte Tourneen der Sängerfamilie Holaus führten durch Europa, nach Amerika, Afrika und Australien.[23]
Aus dem Zillertal stammte eine Reihe weiterer Sängergesellschaften, so die GeschwisterHauser aus Schlitters, die jedoch schnell von den "Ur-Rainern" überflügelt wurden, die Gesellschaften Gänsluckner (gegründet 1858), Stiegler aus Stumm oder die Familie Rieser aus Laimach. Maria Egger-Rieser (*1861 Finkenberg) reiste in jungen Jahren mit den Nationalsängern Oberforcher aus Mayrhofen nach Amerika und eroberte später mit einer eigenen Truppe diesen Kontinent.[24]
Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten sich in Innsbruck mehrere Sängerensembles, zum Beispiel die Gesellschaften Josef Hinterwaldner (1833-1922), Meßner, Geschwister Wilhelm und die "Geschwister"Klett, die noch bis 1931 unterwegs waren. Tiroler Nationalsänger begeisterten nicht nur im Ausland ihre Zuhörer, sondern traten auch in Tirol auf, zum Beispiel in Innsbruck die Gesellschaften Johann Urthaler 1860, Toni Eder-Maikl-Ringler sowie die Oberinntaler Haas 1866 und Tschiderer 1879. Der Zithervirtuose Florian Ringler (1856-1934) hatte 1890, angeregt durch seine Konzertreisen mit der FamiliePitzinger aus dem Pustertal, eine Sängergruppe zusammengestellt und 1892 mit der Familie Maikl vereinigt.[25]
Aus dem Pustertal war seit 1865 die Gesellschaft Jakob Schöpfer bis Nordamerika gekommen. Daniel Pareiner vom Jagerhof in St. Jakob in Ahrn, einem Hof, der lange Zeit die "Kirchensinger" im Ort stellte, unternahm mit seiner Familie von 1875 bis 1890 wiederholt im Winter, wenn am Hof wenig Arbeit anfiel, Sängerfahrten.[26]
Abt Alois Röggl von Stift Wilten lud im Januar 1848 die Geschwister Meister aus Stams in sein Kloster "zu einer Production ihrer Naturgesänge". Sebastian Meister schloss seine Vereinigung später mit den Gesellschaften Holaus und Maikl zusammen und machte im In- und Ausland das sogenannte "Andreas-Hofer-Lied" volkstümlich. Die Melodie dieses Lieds hatte der Klosterneuburger Musiker Leopold Knebelsberger (1814-1869), der sich teilweise selbst als "Nationalsänger" präsentierte, um 1844 komponiert, den Text "Zu Mantua in Banden" hatte 1832 Julius Mosen verfaßt (Tiroler Landeshymne seit 1948). Der aus dem Zillertal gebürtige Zitherspieler und Chormeister in Dresden Karl Fittig ( 1899) arrangierte mehrere "Tiroler Nationalgesänge" für sein Instrument.[27] Die Zither war, nicht zuletzt durch die Vorbildwirkung der Nationalsänger, die sie zur Liedbegleitung oder für solistische Einlagen bei ihren Auftritten einsetzten, neben der Gitarre zum prototypischen alpenländischen Instrument geworden.[28]















Fussnoten

[18] Hans Wurm, "Tiroler Nationalsängergesellschaften im Spiegel ihrer Erfolge", in: Tiroler Anzeiger vom 10. Februar 1934, S. 5;
Walter Senn, "Musik in Tirol. Älteste Nachrichten - Heldenlieder - Minnesänger - Spielleute", in: Ernest Troger, Erläuterungen zur Kulturkarte von Tirol. Historische Stätten und Kulturdenkmale, Wien //ca 1967, FB 37131//, S. 29f.;
Karl Horak, "Tirol als Volkslied- und Volksmusiklandschaft", in: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes 16 (1967), S. 14, 16f., 27;
Rudolf Sinwel, "Die Hauptförderer des Tiroler Volksgesangs", in: Tiroler Heimatblätter 6 (1928), S. 299;
Hubert Gundolf, Tiroler in aller Welt, Innsbruck [u.a.] 1972, S. 113;
J[osef] Ringler, "Zur Geschichte des Tiroler Nationalsängertums", in: Tiroler Heimatblätter 30 (1955), S. 65;
Walter Meixner, "The Tyrolese Minstrels - Made in USA 1831-1833. Konzertleben und Repertoireveränderungen bei den Tiroler Nationalsängern in Amerika", in: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes 36/37 (1987/88), S. 191ff.;
Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989].

[19] Manfred Schneider, [Booklet zur CD] Tyrolienne [1], Innsbruck: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 1997, S. 2.

[20] Hildegard Herrmann-Schneider, "Ludwig Rainer", in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 8, Wien 1983, S. 397 (weitere Literatur siehe dort);
Hans Wurm, "Tiroler Nationalsängergesellschaften im Spiegel ihrer Erfolge", in: Tiroler Anzeiger vom 10. Februar 1934, S. 5f.;
Manfred Schneider, "Musik und Weihnacht in Tirol", in: Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Weihnacht in der Tiroler Kunst [Katalog zur Ausstellung anläßlich des XII. Weltkrippenkongresses in Innsbruck im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum], Innsbruck [1985], S. 84f., 87f.;
Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989], S. 85ff.;
Hildegard Herrmann-Schneider, "Ludwig Rainer und der Weltruf des Tiroler Nationalgesanges", in: Tiroler Tageszeitung vom 15./16. Mai 1993, S. 7;
[Hildegard Herrmann-Schneider], [Exponatbeschreibung zu Sechs Tyroler Lieder gesungen von den Geschwistern Rainer, München um 1828], in: Bayerisch-tirolische G'schichten ... eine Nachbarschaft. Katalog [zur Tiroler Landesausstellung Kufstein 1993], Innsbruck 1993, S. 384f.
Manfred Schneider, [Booklet zur CD] Tyrolienne 2, Innsbruck: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 2002, S. 3f.

[21] Manfred Schneider, "Musik und Weihnacht in Tirol", in: Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Weihnacht in der Tiroler Kunst [Katalog zur Ausstellung anläßlich des XII. Weltkrippenkongresses in Innsbruck im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum], Innsbruck [1985], S. 85ff.;
Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989], S. 78ff.

[22] Hans Wurm, "Die Nationalsänger 'Leo' aus dem Zillertal", in: Innsbrucker Zeitung vom 20. Mai 1934, S. 5f.;
Hans Wurm, "Tiroler Nationalsänger vor Goethe", in: Innsbrucker Zeitung vom 26. Mai 1934, S. 10;
Hans Wurm, "Die Sänger 'Leo' auf ihrer Reise durch Skandinavien", in: Innsbrucker Zeitung vom 6. Juni 1934, S. 7;
Hans Wurm, "Die Geschwister 'Leo' am Ende ihres Sängerlebens", in: Innsbrucker Zeitung vom 10. Juni 1934, S. 5f. (weitere Literatur siehe dort);
Hans Wurm, "Die Nationalsänger 'Leo' an den nordischen Höfen", in: Innsbrucker Zeitung vom 27. Mai 1934, S. 3f.
Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989], S. 53ff.

[23] Hubert Gundolf, Tiroler in aller Welt, Innsbruck [u.a.] 1972, S. 120f.;
Innsbrucker Zeitung vom 24. Juli 1849, S. 698;
Innsbrucker Tag-Blatt vom 25. November 1850, S. 1083f. und vom 10. August 1853, S. 1104;
"Die Tiroler-Sänger-Gesellschaft Holaus im London", in: Neue Tiroler Stimmen vom 27. März 1869, o. p.;
J. Ausserladscheider, "Ein Erinnerungsblatt für den tirolischen Sänger Simon Holaus", in: Tiroler Heimatblätter 30 (1955), S. 72ff.;
Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989], S. 39ff. -

[24] Hans Wurm, "Tiroler Nationalsängergesellschaften im Spiegel ihrer Erfolge", in: Tiroler Anzeiger vom 10. Februar 1934, S. 5f.;
Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik 2, Innsbruck 1929, S. 134f.;
W[enzel] J[osef] Meindl, "Über das Musikleben in Tirol", in: Hundert Jahre Tiroler Sängerbund 1860-1960, hrsg. v. Karl Leipert (= Schlern-Schriften 211), Innsbruck 1960, S. 27;
Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989], S. 21ff. -
Zur Gesellschaft Egger-Rieser vgl. Ernst Kiehl, "Vergleichende Jodelforschung", in: Auf den Spuren der musikalischen Volkskultur im Harz [...], hrsg. v. Bezirk Oberbayern, München 2002, S. 274.

[25] Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik 2, Innsbruck 1929, S. 132f., 135f.;
W[enzel] J[osef] Meindl, "Über das Musikleben in Tirol", in: Hundert Jahre Tiroler Sängerbund 1860-1960, hrsg. v. Karl Leipert (= Schlern-Schriften 211), Innsbruck 1960, S. 27;
Hubert Gundolf, Tiroler in aller Welt, Innsbruck [u.a.] 1972, S. 121ff.;
Hildegard Herrmann-Schneider, "Florian Ringler", in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 9, Wien 1985, S. 170 (weitere Literatur siehe dort).

[26] Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik 2, Innsbruck 1929, S. 132;
W[enzel] J[osef] Meindl, "Über das Musikleben in Tirol", in: Hundert Jahre Tiroler Sängerbund 1860-1960, hrsg. v. Karl Leipert (= Schlern-Schriften 211), Innsbruck 1960, S. 27;
Karl Leipert, Hundert Jahre Tiroler Sängerbund 1860-1960 (= Schlern-Schriften 211), Innsbruck 1960, S. 85;
J[osef] Ringler, "Zur Geschichte des Tiroler Nationalsängertums", in: Tiroler Heimatblätter 30 (1955), S. 69(weitere Literatur siehe dort);
Ivo Beikircher, "Jakob Parainer, der Ahrner Kunstschmied und Natursänger", in: Der Schlern 49 (1975), S. 97;
Hildegard Herrmann-Schneider, "Jakob Schöpfer", in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Lieferung 51, Wien 1995, S. 108f. (weitere Literatur siehe dort).

[27]Hildegard Herrmann-Schneider, "Aus dem Musikleben im Stift Wilten", in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 72 (1988), S. 90;
Konrad Fischnaler, Innsbrucker Chronik 2, Innsbruck 1929, S. 131;
W[enzel] J[osef] Meindl, "Über das Musikleben in Tirol", in: Hundert Jahre Tiroler Sängerbund 1860-1960, hrsg. v. Karl Leipert (= Schlern-Schriften 211), Innsbruck 1960, S. 27;
Walter Thaler, "Musikpflege [und] Volksschauspiele", in: Telfer Buch (= Schlern-Schriften 112), Innsbruck 1955, S. 308.
Günther Lechner, "Leopold Knebelsberger, der Komponist des Andreas Hofer-Liedes ('Zu Mantua in Banden')", in: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerkes 44 (1995), S. 104ff.

[28] Vgl. die zahlreichen Abbildungen der Nationalsänger-Truppen mit Zither und Gitarre bei Martin Reiter, Die Zillertaler Nationalsänger im 19. Jahrhundert, [St. Gertraudi/Reith im Alpbachtal 1989]. -
Vgl. Stefan Hackl, "Die Guitaromanie in Tirol. Geschichte der Gitarre an einem Nebenschauplatz", in: Gitarre & Laute 1/1996, S. 21ff.