Die klangliche Inszenierung des Mythos Tirol

Tiroler Komponisten des 20. Jahrhunderts und ihre Hommage an das Land im Gebirge
Von Hildegard Herrmann-Schneider

Vortrag vom 3. Dezember 2011 in Wien auf der Jahrestagung Synthese Österreich
der österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft
in Kooperation mit der Kommission für Musikforschung
der österreichischen Akademie der Wissenschaften


Das Gebiet des heutigen Nord-, Ost- und Südtirol sowie des Trentino hieß ursprünglich Land im Gebirge. Den Namen Tirol, nach dem Stammschloss der Grafen von Tirol bei Meran, bekam es erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts unter seinem Regenten Graf Meinhard II. (reg. 1271-1295). Gleich einem Schlagwort erhielt sich die Bezeichnung Land im Gebirge für Tirol jedoch bis in unsere Tage, etwa als romantische Umschreibung in Reiseberichten aus früherer Zeit, als wiederholt vorkommender Werktitel in Dichtung und Musik oder verlockender Begriff in der Werbung um den Touristen heute.

Tirol wurde in der Welt nicht zuletzt durch seine Musik ein Begriff. International wurde es, wie kaum ein anderes Land, seit circa 1800 populär durch seine Volksmusik, und dies in allen Gesellschaftsschichten. Dazu trugen insbesondere die reisenden Musikgruppen der sog. Nationalsänger bei. Musikstücke à la Tyrolienne oder Tirolerlieder wurden für alle Beteiligten der Musikszenerie zum Schlager. Mit den über Europa hinaus Furore machenden Nationalsängern etablierte sich die Komponente des Nationalen: Liedausgaben mit Tiroler Volksliedern erschienen als Sammlung von Nationalliedern. Gleichzeitig sprach im 19. Jahrhundert die heimische Presse in Tirol über auswärts weilende Tiroler Komponisten, so im Boten für Tirol und Vorarlberg, von "vaterländischen Tonkünstlern". In der Musik kulminierte der tirolische Nationalismus schließlich nach dem Ersten Weltkrieg, während der Zeit des Austrofaschismus (1933-38) und dauerte noch bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts an. Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie, deren unterschiedliche Völker ihre Identität auch jeweils über ihre Musik definierten, mag wohl mit einen Anstoß geboten haben, dass der nach dem Ersten Weltkrieg verbleibende Rumpf des Deutsch-Österreichischen in kulturellen Belangen nun eine umso intensivere Kultivierung erfuhr.

Im Mentalitätsklima von Nationalismus und Faschismus wuchsen die Tiroler Komponisten Karl Senn (*1878 Innsbruck, 1964 ebd.), Josef Eduard Ploner (*1894 Sterzing, 1955 Innsbruck) und Artur Kanetscheider (*1898 Innsbruck, 1977 Kramsach) auf. Der Nationalismus prägte sie tief und wirkte so natürlich auch auf ihr künstlerisches Schaffen ein. Die Ausbildung an der Lehrerakademie in Innsbruck, die Ploner und Kanetscheider für ihren Brotberuf absolvierten, stand patriotischer Gesinnung nicht entgegen. Überdies wurde damals von Künstlern regelrecht eingefordert, Patriot zu sein, und die meisten der Intellektuellen erfüllten diese Erwartung. Komponisten waren in der Lage, in ihrer Gesellschaft mit ihren Werken das Denken und Fühlen der Zeit exemplarisch zum Ausdruck zu bringen. Karl Senn, Josef Ploner und Artur Kanetscheider waren führende Mitglieder der 1934 in Innsbruck gegründeten und bis 1938 bestehenden Arbeitsgemeinschaft Tiroler Komponisten.1 Sie widmeten ihr Werk und Wirken weitgehend der Idee des Patriotismus und fühlten sich zu Recht als Tiroler Nationalkomponisten.

Es scheint verständlich, wenn Tiroler ganz besonders auf ihre Heimat stolz sind und außerdem dies kundtun, denn die majestätischen wie idyllischen Gebirgslandschaften, die bislang vorherrschende Agrikultur mit spezifischer Almwirtschaft und schneidigem Jagdwesen im Hochgebirge, die im Lauf der Geschichte immer wieder selbstbewusste und vehemente Verteidigung vor Fremdherrschaft, die Demonstration gelebter Tradition oder die faszinierende genuine Musik, insbesondere aber auch die tragische politische Aufteilung des Landes 1919 auf zwei verschiedene Staaten verleihen Tirol eine außergewöhnliche Anziehungskraft, einen Nimbus und ebenso Mythos. Daran hat sich bis heute, wo wir bei uns an sich in einem demokratischen, liberal denkenden Ambiente leben, in Kreisen der einheimischen Bevölkerung nur wenig geändert: Eine soziologisch-psychologische Studie an der Universität Innsbruck im Jahr 2011 ergab, dass der Tiroler seinem Land nach wie vor sehr eng verbunden ist: 85 Prozent von über 500 befragten Tirolern sahen sich 2011 als in ihrer Heimat "tief verwurzelt" und "lieben" ihr Land. Aufhorchen lässt das Faktum, dass die Testpersonen für die Beschreibung ihres Zugehörigkeitsgefühls zu Tirol auch Metaphern wie "Herz" oder "Blut" verwendeten.2 Insofern verwundert es nicht, wenn tirolische Identifikationsfelder musikalisch nachdrücklich vor allem in einer Zeit des radikal suggestiven Patriotismus umgesetzt wurden, diese aber auch unabhängig von politischen Extrem-Konstellationen ein Beweggrund im künstlerischen Schaffensprozess von Komponisten sind.

Hier soll anhand ausgewählter Beispiele erstmals eine kurze Übersicht erfolgen, wie Tiroler Komponisten des 20. Jahrhunderts mit großem Können ihrer Heimat klingende Denkmäler setzten. Dazu wird folgenden Fragen nachgegangen: Welche Mittel finden Verwendung, musikalisch einen Tirol-Bezug zu manifestieren oder Tirol unverwechselbar akustisch darzustellen? Gibt es vor 1900 bereits Vorläufer? Ist Tirol im Schaffen heutiger Komponisten noch oder wieder ein Thema? Welche Unterschiede in der Stoffwahl und in der Ausdrucksweise bestehen dann? Wie ist der aktuelle Stand von Arbeiten zur Dokumentation und wissenschaftlichen Erforschung dieser markanten Phänomene der Tiroler Musikgeschichte?

Musikalisch-tirolische Identifikationsmomente in Orchesterwerken des 19. Jahrhunderts
Die Schützenfreuden. Ein charakteristisches Tongemäldefür vollständiges Orchester mit obligatem Stutzen, Trommel und Pfeifen und Anwendung zweier original Tiroler Melodien von Johann Baptist Gänsbacher aus dem Jahr 1824 sind ein Bravourstück mit spezifischem Lokalkolorit und ein frühes Beispiel einer symphonischen Dichtung. Gänsbacher schrieb sie anlässlich seiner Übersiedlung von Innsbruck nach Wien aufgrund seiner Berufung zum Domkapellmeister an St. Stephan als Abschiedsgeschenk an seine Heimat und Freunde. Die Atmosphäre des damals beliebten Tiroler Scheibenschießens wird klanglich versinnbildlicht durch das Integrieren von Gewehrknall sowie standesspezifischer Instrumente und Melodien der Tiroler Schützen.3

Im Jahr 1884 vollendete Josef Pembaur d. Ä. in Innsbruck seine Symphonie In Tirol op. 39. Obgleich nicht nur das Gesamtwerk einen programmatischen Titel trägt, sondern auch jeder einzelne der vier Sätze (Morgen. Aufstieg ins Gebirge Idylle Spiel und Tanz im Dorfe Fröhliche Heimkehr), so steht dennoch in dieser Komposition mit über 40 Minuten Spieldauer die musikimmanente Entwicklung weit über der programmatischen Komponente. Die Satzüberschriften wecken eine Grundstimmung, die Einfluss nimmt auf Thematik, Harmonik oder Klangfarben der Instrumentation. In keiner Weise wird hingegen der formale Ablauf eines Sonatenhauptsatzes der großen symphonischen Tradition außer Acht gelassen. Der dritte Satz ist formal eindeutig ein herkömmliches Scherzo, gleichzeitig legt er aber noch eine tatsächlich programmatische Intention offen: Stilisiert werden jetzt Tiroler Volkstänze wie Volkslieder übernommen und paraphrasiert, darunter das populäre Nationalsänger-Lied "Von der Kapleralm da hab i"s åbi g"schaut".4 Fast jeder Hörer kennt die Melodie, und so stellen sich bei ihm Assoziationen ein, er kann folgen bzw. die tönende Erzählung des Komponisten über Tirol verstehen. Dass Pembaur ausgerechnet im Scherzo diese lebensfrohe Weise einbaut, erinnert zum Beispiel an den Ländler im Scherzo der 4. Symphonie seines ehemaligen Lehrers Anton Bruckner (1874ff.). Mit In Tirol,der in einer Orchesterkomposition frühen Schilderung von Tiroler Landschaft und Lebensgewohnheiten, schuf Pembaur ein brillantes Bekenntniswerk zu Tirol.


Klangbeispiel 1:

Josef Pembaur d. Ä., Symphonie In Tirol (1884), 3. Satz: Spiel und Tanz im Dorfe
CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 54 (Track 7), Innsbruck: ITMf 2008
Zur CD-Edition Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 54

Tirol auf dem Weg vom außermusikalischen zum musikalischen Sujet
Im 20. Jahrhundert machen Tiroler Komponisten das primär außermusikalische Sujet Tirol zu einem musikalischen wie folgt:

I. Sie vertonen in ihren Liedern, Kantaten und Opern Texte von Tiroler Dichtern.
II. Sie widmen einem bedeutenden Identifikationsfaktor des Landes Tirol eine Komposition, das heißt:
1. Sie legen ihrer Programmmusik als Thema die Tiroler Landschaft und Natur zugrunde.
2. Sie entführen in die geheimnisvolle Welt der Sagen und Mythen Tirols.
3. Sie thematisieren Helden der Tiroler Geschichte.
4. Sie betrauern den Verlust Südtirols an Italien.
5. Sie komponieren nach Bildern eines Tiroler Malers.
6. Sie verehren Tiroler Komponisten aus Spätmittelalter und Renaissance.
7. Sie erweisen der Tiroler Volkskultur ihre Reverenz, indem sie Tiroler Volkslieder, Volkstänze, Hymnen bearbeiten bzw. verarbeiten oder Volkstypen und Bräuche akustisch imitieren und interpretieren.


Jeder der genannten Punkte sei nun in der an dieser Stelle gebotenen Kürze summarisch oder exemplarisch gestreift. Als Schwerpunkt für die Ausführungen wird das uvre der Komponisten Karl Senn, Josef Ploner und Artur Kanetscheider herangezogen. Ihnen hat das Institut für Tiroler Musikforschung in den Jahren 2010/11 Konzerte, CD- und Noten-Editionen gewidmet und damit unentbehrliche Grundlagen zur Erkenntnis ihrer künstlerischen Leistungen allgemein verfügbar bereitgestellt.


Vokalwerke nach Texten von Tiroler Dichtern
Zu den Dichtern, deren Texte die genannten Komponisten vor allem für Lieder wählten, gehören zum Beispiel Hermann von Gilm (1812-1864) oder Anton Müller (Bruder Willram, 1870-1939) bei Senn, Franz Kranewitter (1860-1938), Hubert Mumelter (1896-1981), Anton Renk (1871-1906) oder Arthur von Wallpach zu Schwanenfeld (1866-1946) bei Kanetscheider. Ploner hatte sich für seine Bühnenmusik zu Michael Gaismair (1940) in den zugehörigen Schauspieltext des aus Südtirol gebürtigen Dramatikers Josef Wenter zu vertiefen und vertonte für seine Kantate Das Land im Gebirge (1941) Gedichte von Josef Georg Oberkofler, der ebenfalls aus Südtirol stammte und wie Wenter (1880-1947)5 1938 seine Sympathie mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland öffentlich kundgetan hatte. Wie Karl Senn schrieb Ploner Lieder nach Hermann von Gilm oder Adolf Pichler (1819-1900). Der in Bozen aufgewachsene Gottfried Kuno Riccabona (1879-1964) lieferte Senn Dichtungen für etliche Lieder, zudem das Libretto für die Oper Philippine Welser (1910/11). Senns Kantate über den Hl. Franz von Assisi mit dem Titel Der Ritter der Armut (op. 62, Uraufführung 1926) beruht auf Worten des Südtiroler Priesters und Kunsthistorikers Josef Garber (1883-1933). Die auffallend häufige Nutzung von Dichtung insbesondere zeitgenössischer Tiroler Literaten, selbst wenn diese nicht zu den größten Meistern ihrer Kunst gehören, zeigt, dass die Vertonungen im Dienst an Tirol stehen.


Tiroler Landschaften, Natur und Örtlichkeiten: instrumental und vokal
Innsbrucks Landschaft heißt das viersätzige Tongemälde Opus 80 von Ploner, dessen 3. Satz Auf Almböden und 4. Satz Im Hochgebirge betitelt ist. Mit Glocken wird die klangliche Aura einer Alm illustriert, die dem Orchester beigegebene Orgel erzielt hymnenartige Wirkung. "Feierlicher Orgelklang" lautet ein Vermerk in Ploners autographer Partitur seiner Tannheimer Suite op. 6 (1. Satz 1923/24) für Klavier und Streichquartett gegen Ende des 5. Satzes Dämmerstunde. Nur diesen 5. Satz bereichert in der Besetzung eine Klarinette. Der 4. Satz hingegen trägt zu Beginn die Anmerkung: "Derber Ländler". Mit den Chören Meran op. 185 (Text: Ladurner) oder Mein Absam op. 234 (Text R. Laussa-Mayer), Runkelstein op. 200 (Text: Arnold), Schloss Thurnstein op. 219 (Text T. Hölzl) oder den Serlesliedern op. 170/171 für Singstimme und Klavier thematisiert Ploner von vielen Leuten ins Herz geschlossene Ortschaften und Schlösser in Tirol sowie einen markanten Berg in der südwestlichen Bergkulisse um Innsbruck, am Eingang des Stubaitals. Kanetscheider komponierte 1950 Musik zu einem Tiroler Bergfilm: Der Weg ins Tal für großes Orchester (op. 100). 1952 schuf Senn sein Opus 155, die Symphonischen Dichtungen aus Tirol für großes Orchester. Der erste von zwei Teilen ist überschrieben: Vollmondnacht im Föhn. Senn offenbart mit diesem Stück sein hochsensibles Klangempfinden und seine hohe Kunst des Instrumentierens. In der Vollmondnacht im Föhn vereinen sich Impressionismus und Expressionismus.6


Klangbeispiel 2:

Karl Senn, Vollmondnacht im Föhn op. 155/1 (1951)
CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 79/1 (Track 9), Innsbruck: ITMf 2011
Zur CD-Edition Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 79


Die Welt der Sagen und Mythen Tirols
Der zweite Teil von Karl Senns Symphonischen Dichtungen op. 155 ist benannt: Ballade der Saligen und Hexentanz.7 Während hier keine Details über Orte oder Anlässe für das vor allem in Tirol mythologisierte Auftreten dieser Zauberfiguren angeführt sind, nimmt die Sinfonische Dichtung Frau Hitt op. 104 von Kanetscheider (1952) auf einen sehr bekannten Felsgipfel in der Innsbrucker Nordkette Bezug. Der Sage nach repräsentiert der Fels der Frau Hitt eine versteinerte Königin auf einem Pferd, die zum Beispiel eine Bettlerin verspottet und ihr Brot verweigert hatte. Kanetscheiders Musik übermittelt hier semantische Information, die sich beispielsweise bei der Steinlawine, die Frau Hitt erschlägt, noch leicht, im Ganzen jedoch dem unkundigen Hörer eher schwer erschließt.


Helden der Tiroler Geschichte
Zahllose Musikstücke verschiedenster Gattungen thematisieren, neben einer Reihe von Galionsfiguren, den Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer, dessen außergewöhnlicher Charakter, Heldenmut, Überzeugungskraft, Hingabe und persönliche Lebenstragödie ihn gleichsam "unsterblich" machten. Als Partisane wäre Andreas Hofer keine Einzelerscheinung, doch sein exponierter Status in den europäischen Gefechten seiner Zeit unter Napoleon und die Tatsache, dass der titanische Kaiser, der lange fast ganz Europa niederhielt, persönlich seine Begnadigung ablehnte, trugen dazu bei, dass er in England, Deutschland und Österreich mehr als hinreichend Stoff für die Opernbühne lieferte. Noch für das erst kurz vergangene Andreas-Hofer-Gedenkjahr 2009 komponierte der Tiroler Musiker Florian Bramböck (*1959) für das Tiroler Landestheater die Oper Hofers Nacht. Der Tiroler Schriftsteller Alois Schöpf (*1950) steuerte das Libretto bei und wob Originaltexte aus der Feder Andreas Hofers mit hinein. Zum Themenkomplex "Andreas Hofer und die Tiroler Freiheitskämpfe als musikalisches Sujet" habe ich 2009 in der Südtiroler Kulturzeitschrift Der Schlern (Heft 7) einen 50 Seiten umfassenden Artikel publiziert, so dass ich an dieser Stelle nicht weiter auf ihn eingehe.

Im Gegensatz zu Andreas Hofer als eine singuläre, die breite Masse fesselnde Figur war der von 1704 bis 1709 im Tiroler Benediktinerstift Fiecht regierende Abt Cölestin Böhm zwar aufgrund seiner aufregenden Vita eine exzeptionelle, in der Geschichte Tirols dennoch periphere und somit lediglich einen kleinen Kreis interessierende Persönlichkeit. Martin Spörr (1866 Wilten/Innsbruck Gallspach/OÖ 1937), Gründer des Innsbrucker Symphonieorchesters und nach 1900 etabliert als Dirigent im Wiener Konzertleben, komponierte nach einem eigenen Libretto die Oper Der Abt von Fiecht. Sie wurde 1914 in Nürnberg uraufgeführt.8 Eine Studie über diese Oper und ihren Autor fehlt bisher.


Die Tragik der politischen Teilung Tirols 1919
Josef Ploner schuf sein bewegendes Orchesterstück Trauernd Land, das er im Untertitel autograph Eine Tondichtung der Heimatliebe bezeichnete, 1936. Der autographen Partitur sind Gedichtabschriften Ploners vorangestellt: "Du meiner Jugend zerbrochenes Land [...]" von Wallpach, "In unseren Seelen lodert immerdar ein mahnend" Feuer, deiner nie zu vergessen, verlorene Heimat [...]" von "Sepp Sterzinger" (als Pseudonym für sich, den aus Sterzing gebürtigen Josef [Ploner]) und ein Vers von Friedrich Hölderlin: "Doch du, mein Vaterland, du heilig duldendes, siehe, du bist geblieben", ferner liegt ihr eine zeitgenössische Ansichtskarte mit einer Dolomiten-Landschaft bei.9 Das Werk in einem einzigen Satz von gut einer Viertelstunde Spielzeit zeichnet gewissermaßen ein klingendes Psychogramm von Gefühlswelten nördlich und vor allem südlich des Brenners. Der als Unrecht empfundene Zustand des auseinandergerissenen Landes drückt sich unmissverständlich aus in Liedzitaten über bzw. aus Tirols Heldenzeit, darunter "Zu Mantua in Banden" (Hoferlied, seit 1948 Tiroler Landeshymne)10 und "Ach Himmel, es ist verspielt" (Hofers Sterbelied). Solche eingeflochtenen Lieder aus dem Allgemeingut machen die Komposition jedermann begreiflich und die geschilderte Situation nachfühlbar. Ploner wechselte in diesem Stück stilistisch u. a. zwischen kontrapunktischen Verfahren, die er exzellent beherrschte und einem volksnahen, Identifikation vermittelnden Ton. Ansonsten wäre es wohl kaum geschehen, dass das Werk über Jahrzehnte immer wieder zur Aufführung kam und insbesondere an Tiroler Landesfeiertagen wie dem Todestag Andreas Hofers im Rundfunk als Referenz-Stück gesendet wurde.


Klangbeispiel 3:

Josef Eduard Ploner, Trauernd Landop. 81 (1936)
CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 74/2 (Track 1), Innsbruck: ITMf 2011
Zur CD-Edition Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 74


Musik nach Bildern eines Tiroler Malers
Ploners Trauernd Land ist eine Symbiose von Musik aus dreierlei Komponenten: nach Texten, nach vom Komponisten selbst visuell verinnerlichter Schönheit des Landes und nach individuell wie kollektiv verspürtem Leid. Zum Kontext Musik und Malerei in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Tirol finden sich für das 20. Jahrhundert Beispiele unter anderem in Kompositionen von Karl Senn nach Bildern des Tiroler Malers Albin Egger Lienz (1868 Stribach/Osttirol St. Justina/Bozen 1926). Im November 1937 und Januar 1938 dies sollte kurz vor Ende des Austrofaschismus sein, schuf Senn ein grandioses Orchesterwerk mit großer Besetzung und insbesondere auffallend aufwendigem Schlagwerk. Wortkarg nannte er es 1809. Die drei Sätze 1. Schwur, 2. Ave Maria nach der Schlacht am Bergisel, 3. Totentanz nehmen Bezug auf drei gleichnamige Ölbilder von Egger Lienz. Die Idee zur Komposition war 1922 in Wien nach einem Zusammentreffen der beiden Künstler dort entstanden, der Maler soll begeistert gewesen sein. Die Kenntnis der Bilder ist für das Verstehen von Senns Musik von Vorteil. Wem allerdings "das Programm" nicht geläufig" sei, dem eröffne sich "zumindest das Erlebnis eines tragischen Geschehens voll kriegerischer Unerbittlichkeit", steht in den Innsbrucker Nachrichten vom 15. April 1940 im Bericht über die Uraufführung des aufwühlenden Totentanzes zu lesen. Albert Riester, ein ehemaliger Kollege Senns in der Arbeitsgemeinschaft Tiroler Komponisten, meinte am 5. Mai 1942 in den Innsbrucker Nachrichten, nach der Uraufführung des Schwurs, dass die Aufführung des Stücks eine "sorgfältige, auch geistige Vorbereitung der Ausführenden" voraussetze. Eine Aufführung des 2. Satzes Ave Maria dürfte aufgrund seiner religiösen Intention während der Vierzigerjahre nicht erfolgt sein.11

Das riesige durchkomponierte Orchesterwerk Vorfrühling von Karl Senn (op. 57, um 1925) steht wohl unter dem Einfluss des 1. Satzes der 9. Symphonie von Gustav Mahler, die er 1920 in Amsterdam unter dem Dirigat von Willem Mengelberg kennen gelernt haben dürfte. Das avantgardistisch angelegte Stück, singulär in Senns uvre, ist programmatisch zu verstehen. Möglicherweise ist es komponiert nach dem Bild Vorfrühling von Albin Egger Lienz (2. Fassung 1917), das die Alternativtitel Die Lawine bzw. Vorfrühling in Tirol trägt. Literarisch wurde das Thema Vorfrühling von vielen Lyrikern behandelt, und Senn schrieb 1936 auch ein Lied Vorfrühling, für Singstimme und Klavier nach dem gleichnamigen Gedicht von Ernst Scheibelreiter (1897 Wien ebd. 1973).12


Südtirol von Artur Kanetscheider
Das Paradigma musikalischer Hommage an Tirol ist die monumentale "Orchestersuite" Südtirol von Artur Kanetscheider. Der Komponist sieht sie als sein "orchestrales Hauptwerk [...], gestaltet auf der Grundlage des angestammten Volksliedes, bezogen auf die Eigenart der Landschaft, ihres Brauchtums, der geschichtlichen Vorgänge einschließlich der Sage".13 In drei Teilen mit insgesamt 18 Sätzen setzt Kanetscheider dem legendären Land Südtirol ein umfassendes majestätisches Denkmal.

Kanetscheider schildert im ersten Teil Land der Väter (op. 105, 1953) die Landschaft der Dolomiten mit den phantastischen Bergen der Tofana und Marmolata, stellt dabei aber in den Mittelpunkt, dass sie im Ersten Weltkrieg erschütternde Kampfplätze waren. Kompositionstechnisch beruht das Land der Väter auf der Verarbeitung von Liedern aus ladinischem Volksgut, die Kanetscheider auch selbst in Enneberg und im Grödental aufgezeichnet hatte. Kanetscheider versah autograph jeden Satz der Partitur mit detaillierten Anmerkungen zum Programm. Er deklariert die verwendeten Lieder und erklärt die geographischen Schauplätze. Im 3. Satz Marmolata bringt er zum Beispiel das Lied "O la ch"la Marmolèda" des ladinischen Organisten und Chorleiters Philipp Verginer (1885 St. Martin in Thurn/Enneberg ebd. 1940), im 5. Satz Sella und Soldatengräber bei Canazei (Fassatal) erinnert er mit dem ladinischen Lied "Mort, crüdig mort" an seine eigene, unglaubliche 34 Stunden währende Verschüttung unter einer Lawine 1916 bei einem Einsatz an der Front auf Gran Poz, wo er nur knapp dem Tod entgangen war. Im 4. Satz Reich der Fanes (Gebirgszug zwischen Enneberger- und Gadertal) werden Sagen von ihren Bewohnern, Menschen wie Tieren oder Almszenerien mit hierzu typischen Liedern und spezifischer Klangmalerei nachgestellt. Der 7. Satz ist überschrieben: Sakrale Schnitzkunst. Ave mater von Oswald von Wolkenstein. Hier wird ein berühmtes Kunsthandwerk des Grödentals, in dessen Produktion Marienfiguren einen zentralen Platz einnehmen, memoriert und kongenial das Lied "Ave mater o Maria" Oswalds von Wolkenstein, die Kontrafaktur seines "Ave mütter küniginne" eingeflochten. Diese Wahl legitimiert sich dadurch, dass Oswald ein Zuhause auf Burg Hauenstein in Gröden hatte und später im Volksmund als Heldensänger Eingang in die urrätische (ladinische) Poesie fand.

An Rienz und Eisack (op. 106/1953-1957), der Teil 2 von Kanetscheiders Südtirol, wird von Kanetscheider als "Spiegel der Landschaft, des Liedes und seiner Kunst" definiert. Der 1. Satz Seiser Alm ist überschrieben "Orchester-Idyll nach Volksweisen". Er beruht auf populären Musterbildern Südtiroler Lieder, so dem Seiser-Alm-Lied ("Es wearn die Wies"n grüen"), dem Schlern-Lied ("Hoch droben auf dem Schlern") und dem Bozner Bergsteigerlied ("Wohl ist die Welt so groß und weit"). Sagen um König Laurin werden musikalisch illustriert im 3. Satz Laurinsburg Rosengarten. Scherzo romantico. Dem 2. Satz Latemar und Karersee. Elegie liegt wieder ein Lied Oswalds von Wolkenstein zugrunde, nämlich "Ich klag, ain Engel wunnikleich".

In Etschland (op. 112/1955-1961), dem 3. Teil von Südtirol, reflektiert Kanetscheider Phänomene aus der Gegend um Bozen. Im 2. Satz Sarntal verweist er auf die dortige große Tradition der Kirchensinger, indem er zwei Marienlieder aus dem Repertoire der Familie Oberhöller in Reinswald zitiert und verarbeitet. Adäquat prägen historische Lieder, darunter das Kampflied auf Greifenstein Oswalds von Wolkenstein, den 3. Satz Burggrafenamt. Wie könnte indes der 4. Satz Passeiertal anders als mit Gesängen um Andreas Hofer gestaltet sein? Das Finale Vinschgau und Ortler krönt pathetisch eine Vertonung des patriotischen Gedichtes Der rote Tiroler Adler des Tiroler Lyrikers Johann Chrysostomus Senn (1795-1857). Eingeleitet wird der ganze Komplex Etschland vom gleichnamigen 1. Satz, mit der Beifügung: In memoriam Leonhard Lechner. Die ehrfürchtige Verneigung vor dem großen Tiroler Komponisten aus dem Land an der Etsch, dem "Athesinus" und Kosmopoliten gleichermaßen, geschieht durch die kunstfertige Verarbeitung der Lechner-Lieder "Mit tanzen und springen" und "Gott b"hüte dich". Die Instrumentation spiegelt klar einen Renaissance-Gestus wider.14


Klangbeispiel 4:

Artur Kanetscheider, Südtirol 3. Etschland op. 112 (1955-1961):
1. Satz In memoriam Leonhard Lechner
CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 69/2 (Track 1), Innsbruck: ITMf 2010
Zur CD-Edition Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 69


Die Reverenz an Tiroler Komponisten aus Spätmittelalter und Renaissance
Oswald von Wolkenstein (ca. 1377-1445), Heinrich Isaac (ca. 1450-1517) und Leonhard Lechner (ca. 1553-1606) sind nicht nur drei herausragende Tiroler Komponisten, sondern singuläre Persönlichkeiten ihrer Zeit, die allgemein die Musikgeschichte geprägt haben. Es ist daher eine logische Konsequenz, dass in der Epoche des Neoklassizismus in der Musik Tiroler Nationalkomponisten auf Modelle von geistigen Tiroler Vorfahren und überdies künstlerischen Idolen zurückgriffen. Hierfür ist ein Beispiel die Wolkenstein-Suite op. 103 von Josef Ploner mit den Sätzen Taglied Klage Reigen Greifensteiner Fuge,aus dem Jahr 1940 für Streichorchester (Uraufführung 1948) und aus dem Jahr 1951 (vermutlich) für großes Orchester. Sie soll um 1950 laufend vom ORF gesendet worden sein und damals ein Lieblingsstück der Hörer dargestellt haben. 1946 bearbeitete Karl Senn zwölf Lieder Oswalds für Singstimme und Klavier, sechs in Opus 110 und weitere sechs ohne Opuszahl.

Heinrich Isaacs Lied "Innsbruck ich muss dich lassen" hat schon Mitte des 16. Jahrhunderts eine Umdichtung erfahren, es wurde zu "O Welt ich muss dich lassen". Generell symbolisiert sein Text das unfreiwilligen Abschiednehmen und ist daher in Tirol als Metapher für den Verlust Südtirols prädestiniert. Musikalisch wurde das populäre Lied im Lauf der Jahrhunderte unzählige Male und auf verschiedenste Weise bearbeitet.15 Exemplarisch seien hier zwei um 1955 in Innsbruck entstandene Werke über "Innsbruck ich muss dich lassen" erwähnt: der Symphonische Prolog op. 101 von Artur Kanetscheider sowie die Toccata von Karl Senn, als Opus 170/1 für Orgel oder als Opus 170/2 für Orgel und 6 Bläser. Während Kanetscheider das Lied aus der Renaissance in ein Musikgenre der Romantik hüllt, wählt Senn eine nun im Neoklassizismus wieder aktuelle musikalische Form.


Tiroler Volkslied, Volkstanz und Brauchtum in neuer musikalischer Gestalt
Aus einem inneren, glaubwürdigen Selbstverständnis heraus ist Senn, Kanetscheider und Ploner eine lebenslange Liebe zur Volksmusik eigen. Zeugnis davon geben ihre mannigfachen Bearbeitungen und vor allem auch das Faktum, dass alle drei in ihrem Schaffensprozess wiederholt eigene originale Aufzeichnungen benützten, Karl Senn solche von seinem Sohn Walter. Im kompositorischen uvre Kanetscheiders und Ploners ist absolute Musik nachrangig. Ihr Zeitgenosse und Kollege in der Arbeitsgemeinschaft Tiroler Komponisten, Emil Berlanda (1905-1960) hingegen, distinguiert und zurückhaltend im Charakter, schrieb ausschließlich absolute Musik, für die er in späteren Jahren das Motto "strenger Stil, strenge Linie" setzte. Tirol spielt für ihn in seinem kompositorischen Akt keine Rolle.

Karl Koch (1887 Biberwier Innsbruck 1971), von 1924 bis 1967 Chordirektor in Innsbruck-St. Jakob (Dom seit 1964) und ebenfalls Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Tiroler Komponisten, obgleich eher am Rande, schrieb zwar eine Symphonie Aus den Bergen (1942) und weltliche Chöre Die Dolomiten, doch hatte für ihn als Kirchenmusiker und Priester die Komposition geistlicher Musik absolute Priorität.

Geistliches Liedgut aus Südtirol hat Artur Kanetscheider meisterhaft verinnerlicht. Dies beweist nicht nur der erwähnte Satz Sarntal in Südtirol 3, sondern vor allem die Variationen für Orchester über ein geistliches Lied op. 96a (1957), nämlich über "Bitte bei Maria um Sonnenschein" aus Reinswald, legen dies offen.

Tiroler Volkslieder und Volkstänze wurden insbesondere von Karl Senn auf geniale Weise im Gewand seiner Zeit präsentiert. Viele seiner vokalen Volksliedsätze schrieb er für die Singbuben, einen Knabenchor unter seiner Leitung, mit dem er in Innsbruck nicht zuletzt bei patriotischen Veranstaltungen auftrat, sondern auch Konzertreisen nach Deutschland unternahm (1932, 1938).16 Senn setzte nicht nur einzelne Lieder oder Instrumentalstücke für sich in einer zeitgenössischen Version, sondern er machte aus ihnen auch neue umfangreiche Kompositionen in idealtypischer Verwirklichung der künstlerischen Identität der Stücke. Dabei kann ein einzelnes Lied Material für ein ganzes Orchesterwerk liefern, zum Beispiel in der Sinfonietta nach Motiven eines Tiroler Volksliedes [Wollt"s öpper an Hos"nlupf wagn] op. 164 (1953). In seiner Komposition Das Tiroler Volkslied (o. op., 1934) für Salonorchester reiht er 15 bekannte Tiroler Volkslieder, von "Juhe Tirolerland" bis zu Andreas Hofer potpourriartig aneinander. Karl Senns "Suite" Alte Zillertaler Tänze op. 126 (1950) mit den Sätzen Ländler Polka Walzer. Gut" Wetter Alte Marsch-Polka orientiert sich in ihrer Besetzung von Klarinette, zwei Zithern, Gitarre und Kontrabass an einem Standard damals, denn auch bei Kanetscheider kommt sie so vor. Die Bezeichnung "Suite" hat hier, wie bei den anderen zeitgenössischen Tiroler Komponisten, etwa mit der konventionellen Satzfolge bei Instrumentalstücken im 17. Jahrhundert nichts mehr zu tun, sie steht jetzt für eine programmimmanente Abfolge einzelner Stücke. Ähnlich ist von Senn der Zyklus Alte Hochzeitstänze aus Kastelruth op. 129 (1952) angelegt; für diese sind jedoch an Stelle der zwei Zithern zwei Violinen vorgeschrieben. Ein besonders originelles Stück ist Senns Tiroler Volkslieder-Suite op. 114 (1948). Folgten im Tiroler Volkslied von 1934 die 15 Lieder jeweils unter ihrem Liedtitel noch fast lose aufeinander, so hat nun die 14 Jahre später entstandene Volkslieder-Suite vier Sätze nach symphonischem Vorbild (Allegro moderato. Marschmäßig Andante molto moderato quasi adagio Scherzo Finale), der gedankliche wie musikalische Liedgehalt wird interpretiert und musikalisch inszeniert. Begonnen wird mit "Heit gemma auf die Alma" im 1. Satz, ohne das Lied mit Worten zu erwähnen. Geschlossen wird im Finale mit dem Spingeser Schlachtlied, wobei der Tiroler Landsturm mit Trompeten, die Schützen mit Trommel und Schwegelpfeifen oder die generelle militärische Klangaura mit schaurigen Klängen des Tamtam, abgehackten Melodien oder bizarren Harmonien versinnbildlicht werden.17


Klangbeispiel 5:

Karl Senn, Tiroler Volkslieder-Suite op. 114 (1948):
1. Satz Allegro moderato. Marschmäßig [Heit gemma auf die Alma]
CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 82/1 (Track 1), Innsbruck: ITMf 2011
Zur CD-Edition Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 82


Gut ein Jahrzehnt, bevor Artur Kanetscheider in seiner Orchestersuite Südtirol (1953-1961) Landschaften und dortige Begebenheiten musikalisch charakterisierte, hatte Josef Ploner in seiner "Suite für großes Orchester" Das Tiroler Jahr op. 131 (1943/44) Tiroler Bräuche im Jahreslauf in Musik gefasst. Die vier Sätze sind nach den Jahreszeiten bezeichnet, jeweils ein Untertitel dazu nennt einen gerade repräsentativen Brauch. Bemerkenswerterweise stellt Ploner nicht den Frühling, sondern den Winter an den Anfang. Das Stück beginnt im Winter. wenn das Neue Jahr laut Ploners eigenen Worten "in den geheimnisvollen Raunächten aus dem Schoß der Zeiten herauf[steigt]" und endet im Herbst jeweils mit dem Sterzinger Andachtsjodler, wie ihn Ploner 1911/12 selbst in seiner Geburtsstadt aufgezeichnet hatte. Ob die Gestaltung von Anfang und Schluss mit derselben rührenden und allbekannten Weise aus seinem Heimatort meditativ andeuten soll, was für Ploner und seine Tiroler Hörer umspannend zum Leben gehört, nämlich das geliebte Südtirol? Im weiteren Verlauf des Satzes schwenkt Ploner um, er thematisiert das wilde Imster Schemenlaufen, das den Winter auszutreiben hat. Manch originäre Klänge werden mit Orchesterinstrumenten imitiert, etwa der Hexenruf auf Bockshörnern, hingegen kommen Rollen und Schellen wie beim Brauch selbst zum Einsatz. Im 2. Satz klingt der Frühling u. a. mit dem Mailied Oswalds von Wolkenstein an. Im Sommer ertönen die üblichen Tiroler Kampflieder, aber auch das Pienzenauer-Lied, eine Ballade des 16. Jahrhunderts, die von der Eroberung Kufsteins durch Kaiser Maximilian erzählt.18


Klangbeispiel 6:

Josef Eduard Ploner, Das Tiroler Jahr op. 131 (1943/44):
1. Satz Winter. Imster Schemenlauf
CD Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 74/1 (Track 1), Innsbruck: ITMf 2011
Zur CD-Edition Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 74


Zum Forschungsstand
Bislang ist die Musikgeschichte Tirols im 20. Jahrhundert nur mangelhaft erforscht. Es gibt zum Beispiel über keinen der Komponisten, der hier angesprochen wurde, eine nach wissenschaftlichen Kriterien hinreichend verfasste Biographie, von keinem existiert ein thematisches Werkverzeichnis, das einen exakten Überblick über sein Ouvre zulässt, obwohl diesen Komponisten durch ihre einmalig konsequente musikalische Rezeption nationalistischer und neoklassizistischer Strömungen in Tirol ein einzigartiger Status zukommt und ihre Kompositionen von hoher Qualität sind. War im 19. Jahrhundert etwa für Johann Gänsbacher mit seinen Schützenfreuden oder für Matthäus Nagiller mit seiner Symphonie Erinnerung an Tirol 1851 (verschollen) sowie mit seiner Oper Friedrich mit der leeren Tasche über Herzog Friedrich IV. von Tirol (Uraufführung Innsbruck 1859) Tirol im Komponieren lediglich eine Randgeschichte, ebenso im 20. Jahrhundert für die Tiroler Komponisten Robert Nessler (1919-1996) oder Werner Pirchner (1940-2001),19 so sind Ploner, Kanetscheider, Senn von sich aus überzeugte Patrioten und bringen dies in ihrem Werk systematisch zum Ausdruck.

Monographien über sie zu erstellen, erfordert freilich äußerst aufwendige und diffizile Arbeiten. Zum einen haben gerade Ploner, Kanetscheider und Senn hunderte Stücke geschrieben und teils in mehreren Fassungen, zum anderen sind ihre zeitweise wohl konfrontationsträchtigen Lebensumstände so genau wie möglich anhand von Primärquellen erst einmal von Grund auf zu recherchieren. Dabei sind zeitimmanente Phänomene objektiv gewissenhaft zu durchleuchten, Zusammenhänge herzustellen und vorab oberflächlich pauschale, allein retrospektive Urteile zu vermeiden.20

Um als erstes wenigstens einen größeren klanglichen Eindruck vom uvre Ploners, Senns und Kanetscheiders, natürlich auch Berlandas, für einen breiten Interessentenkreis verschaffen zu können, hat das Institut für Tiroler Musikforschung in Innsbruck in den Jahren 2010/11 allein mit Werken von Ploner, Kanetscheider und Senn sieben Doppel-CDs, dazu eine Einzel-CD herausgegeben.21 Sechs Editionen entstanden in Kooperation mit den Archiven des ORF in Innsbruck und Wien, indem von dort historische Aufnahmen der Jahre 1949-1979 für die CD-Editionen übernommen und so auch vor einer bereits angedachten Vernichtung beim ORF bewahrt wurden.22 Zwei Editionen liegen vor als Livemitschnitte von im Jahr 2011 vom Institut für Tiroler Musikforschung durchgeführten Konzerten. In Kooperation mit Nachfahren der Komponisten wurden bisher im Institut für Tiroler Musikforschung neu erstellte Partituren von circa 40 Werken samt Audiosimulation in der Musikedition Tirol im Internet (http://www.musikland-tirol.at/musikeditiontirol/index.php) verfügbar gemacht. Damit liegt bereits ein stattlicher Beitrag für weiterführende Forschungen vor.


Ausblick
In Anbetracht der Komplexität des Themas konnten hier lediglich einige Schwerpunkte angesprochen werden. Künftige Betrachtungen könnten weitere Facetten beleuchten wie zum Beispiel die Rolle der Heldenorgel in Kufstein auf der Festung, für die Kanetscheider um 1930 seine Heldenorgel-Suite op. 65 schrieb, gewidmet "dem Andenken gefallener Lehrer-Kameraden" oder die Struktur von Ploners Streichtrio Tiroler Rokoko op. 146, das Bezug nimmt auf einen speziellen Kunststil. Damit eröffnet sich die Frage nach möglichen Parallelerscheinungen des Nationalismus in Malerei und Dichtung. Wo liegen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu Werken anderer Komponisten in anderen Ländern, von denen die bekanntesten wahrscheinlich Smetana, Dvo ák, Sibelius, Respighi, Bartók oder Kodály sind. Wie stellt zum Beispiel der irische Komponist und Volksliedsammler Ernest J. Moeran (1894-1950) von ihm geliebte Gebirgslandschaften dar?

Als Exkurs in unsere Zeit sei die junge Südtiroler Komponistin Manuela Kerer (*1980 Brixen) erwähnt. Sie hat bislang 150 Werke geschrieben, ca. ein Viertel davon mit einem engeren oder weiteren Tirol-Bezug. Neu ist bei ihr, dass sie Tirol mit avantgardistischer Musik darzustellen versteht, wobei sie auf ihre Art traditionelle Stilmittel gebraucht bzw. oben bereits erläuterte Vorgehensweisen wählt. Repräsentativ sei genannt das Stück Es war einmal ein vasoaktiv intestinales Peptid, das den Almabtrieb neuromodulierte für Flöte und Kammerorchester (2008), das Südtiroler Schüttelbrot als Perkussionsinstrument einsetzt, nicht zuletzt so, dass die Spieler darauf beißen. Die vier Sätze lauten: Aufgekranzte Substanzen Opioider Schafschoad Almabtrieb 1 Kiehkemma mit Neuropeptid Y Almabtrieb 2 Präsynaptisch überschwemmter Viehscheid. In dl r gn de fanes für Violine, Viola, Kontrabass (2007) verleiht sie dem "Fanes-Mythos" Ausdruck und baut einen langsamen Jodler ihres Urgroßvaters Jepele Frontull aus dem Gadertal ein. Nach Bildern der zeitgenössischen Tiroler Maler Thomas Riess, Helmut Hable oder Hubert Kostner enstanden tommaso spaziale für Zither und Tonband (2007/Riess), Klangbewegungen für drei Alphörner und Percussion (2007/Hable) oder Suono di terraiolo. Klanginstallation mit live-Flöte Solo (2008/Kostner). 2011 wurde in Lengmoos am Ritten Spiegelwelten für Querflöte und Diskantzither uraufgeführt, eine Musik zur Erzählung der Dolomiten-Sage Der grüne Spiegel. Bei Sussuram nt dla munt (Das Flüstern des Berges, 2005/06) kommen Maultrommeln zum Einsatz, und an einer bestimmten Stelle darf das Publikum, wenn es mag, "In di Berg bin i gern" mitsingen. Bei solitudine vaga für drei Zithern und Zuspielung (2009/10) hat sie Aufnahmen aus Tiroler Innenstädten mit solchen aus Japan vermischt und verfremdet. Gefragt nach dem Grund für den Tirol-Bezug in ihren Kompositionen antwortete sie mir am 22. November 2011: "Der Tirol-Bezug ist für mich ein Thema, weil ich in Tirol aufgewachsen bin und mich sowohl die Volksmusik als auch die restliche Kulturlandschaft geprägt hat. Ich spiele nach wie vor selber sehr gern richtige Volksmusik [...]. Insofern interessieren mich auch die alpenländischen Instrumente [....]. Mir sind der (Süd-) Tiroler Dialekt und das Ladinische sehr wichtig, deshalb gibt es einige Stücke mit einem dementsprechenden Titel."

Diese Feststellung kommt von einer Komponistin, die außerhalb Tirols längst in Konzertsälen der Welt von Wien, München, Berlin, Frankfurt, Moskau, Südamerika oder bei weltweiten Rundfunkübertragungen erfolgreich präsent ist. Offensichtlich erklärt sich das Tiroler Gemüt zeitlos aus dem Gedicht "Tirol isch lei oans" des Tiroler Priesters und Dichters Sebastian Rieger Reimmichl (1867-1953), das Vinzenz Goller (1872-1953) aus St. Andrä bei Brixen und Leiter der Kirchenmusikabteilung Klosterneuburg an der Wiener Musikakademie vertonte. Es endet: "Tirol isch lei oans, wia dås Landl isch koans! In der Nah, in der Fern, isch koans auf der Erdn!" Damit wären wir abschließend bei einer weiteren Facette der "klanglichen Inszenierung des Mythos Tirol" im 20. Jahrhundert, nämlich der Vertonung von Hymnen auf Tirol, angelangt. "Tirol isch lei ons" mag exemplarisch genügen.